»DIE REISENDEN DER ZEIT«

Auf dem Weg zwischen Damals und Heute, Heute und Damals. Endlos ist der Raum, ein Rollfeld für den An- und Abflug der Zeit. Im Vordergrund, an der Schwelle zu dieser Leere, die schlanke Rückenfigur einer jungen Frau. In der Ferne, am Boden, ein Flugzeug. Eben erst gelandet oder in Startposition?
Die Frau im hellen Sommerkleid, ist sie eine Wartende oder eine ins Ungewisse Aufbrechende? Mit Gewissheit ist sie eine Reisende zwischen ihrer Vergangenheit und unserem Hier und Jetzt. Einmal nur wechselte sie die Transportmittel, glitt hinüber von der Fotografie zur Malerei.
Vor bald einem Jahrhundert hat irgendein Amateurfotograf die Schöne mit seiner Kamera aufgenommen, und jetzt traf sie auf einen Maler, der sie vor ihrem Untergang bewahrte. Damals hat sie möglicherweise das Flugzeug nicht bestiegen, aber ein andersartiges Vehikel hat sie über das Meer verronnener Tage zu uns gebracht. Eine kleine Maschine fing sie, wie eine zuschnappende Falle, in einer dunklen Kammer ein. Als Blinder Passagier wurde sie in unsere Gegenwart gespült. An diesen Gestaden des Vergessens entdeckte sie schließlich der Maler (purer Zufall?) und hat dann ihr Bild gemalt . . . (Aber, um alles in der Welt, warum nur?) Wollte er auf diese seltsame Weise seine Zuneigung bekunden, auf diesem Wege für sie sorgen, ihr vielleicht gar das Leben wiedergeben? Oder einfach nur mit den Fingern der Malerei dieses seidene Kostüm, diesen von weit her kommenden Körper und ihr dunkel schimmerndes Haar berühren?

Das Atelier des Malers ist ein Laboratorium der Leidenschaften und Leiden. Ein Gemälde ist vollkommen, wenn es alles Sterbliche schützend in sich aufgenommen, die Vergänglichkeit gebannt hat . . . In seiner organisch gewachsenen Substanz ist es überlebensfähiger als jenes fotografische Opfer, das ein mechanischer Schnappschuss uns hinterlässt.
Die Rückenfigur in der Malerei (Vermeer, Friedrich, Magritte, Oelze . . .), ein romantischer Topos, Ort des Betrachters im Bild: unser Bild gewordenes Ich. Eine Körpermaske, in die wir schlüpfen, um das Bild zu betreten, es mit Augen zu bereisen. Eine solche Figur der Identifikation, selbst wenn im Bild nicht dargestellt, wird vom Bildbetrachter unweigerlich in der Wirklichkeit vor dem Bild eingenommen: Der Betrachter wird Teil der Darstellung, verwandelt sich in das Ich gewordene Bild, das sich auf dem Weg durch uns in die reale Welt begibt.
Gemälde sind nicht nur wundersame Fortbewegungsmittel, visuelle Zeitmaschinen; dank des ihnen innewohnenden Lebens, ihres Reichtums an Gedanken, ihrer unleugbaren Beseeltheit sind sie zugleich immer auch Agierende, also selbst Reisende zwischen den Zeiten.
Jedes wahre Kunstwerk strebt nach dem fernen Horizont jenseits der uns vertrauten Koordinaten von Raum und Zeit. Es will, um in unserem Bild zu bleiben, der Zukunft, von der wir Sterblichen nur immerzu den Rücken sehen, ins Gesicht blicken.

Postskriptum: Im Laufe der Jahre erscheinen immer wieder ähnliche Themen und Motive auf der Leinwand des Malers. (Wie alte Bekannte in der Wartehalle eines Flughafens . . .) So auch jene undurchsichtigen Rückenbilder von Frauen ohne Gesichter.

Martin Paulus, 2008

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»SILBER AM HIMMEL I«

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts erheben sich die ersten Zeppeline von der Erde in den Himmel. David und Mathilde werden in diesen Jahren geboren. Die Reise eines Luftschiffs folgt den Stationen ihrer beider Leben (dem Weg von ihren Heimatdörfern in die großen Städte) und dem wechselvollen Lauf der Geschichte Europas: von Süddeutschland und Südtirol nach Rom und Triest – von Weltkrieg zu Weltkrieg. Erst nach einem halben Jahrhundert kehrt der Zeppelin an seinen Ausgangspunkt zurück . . . Und noch einmal muss ein halbes Jahrhundert vergehen, bis diese Geschichte geschrieben, gezeichnet und gemalt wird.

Martin Paulus, 2010

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»SILBER AM HIMMEL II«

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erheben sich die ersten Zeppeline in den Himmel, hundert Jahre später taucht in meinen Bildern – Echo ferner Tage – das erste Luftschiff auf, ein Engel der Technik, apotheotisches Sinnbild einer damals anbrechenden neuen Zeit.

Die Gründe für dieses beharrliche Motiv müssen zwingende sein, von verschiedenen Ursachen gespeist, um nun, wiederum über die Jahre hinweg, zu einem ständigen Begleiter werden zu können.

Doch der eigentliche Keim dieser fortwährenden Obsession wird wohl jene Erzählung meiner Großmutter sein: die sagenhafte Rundfahrt eines Knaben, meines Vaters, mit einem solchen Himmelsschiff über der Stadt Rom.

Die Ausstellung widmet sich ausschließlich Luftschiffen als den Protagonisten der hier erstmals in dieser Fülle versammelten Arbeiten. Dabei beschränkt sie sich nicht auf die sonst für wechselnde Präsentationen vorgesehenen unteren drei Räume, sondern erstreckt sich auch über die ständige Sammlung des Museums. Die Zeppeline und Fesselluftballone schwärmen von unten nach oben aus und lassen sich in den verschiedenen Abteilungen der Geschichte einer Stadt nieder . . .

Durch diese Interventionen entstehen auf spielerisch-assoziative Weise – selbst über Epochengrenzen hinweg – überraschende Begegnungen, die in einer Art Dialog eine neue Sicht auf scheinbar Bekanntes eröffnen.

Martin Paulus, 2013

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»STILLE LEBEN«

Der Unterschied zwischen einer ungepflückten und einer gepflückten Blume – die Verwandlung von Natur in Menschenwerk: der wie trauernd geneigte Blütenkopf; der weiblich-bauchige Leib des Ziergefäßes, das zur bergenden Behausung wird.
Anders – in einer Art Rückverwandlung – ein verlassenes Haus, aus leeren Fensteraugen die Welt anstarrend oder die stillgelegte Fabrik, mit ihrem Sägezahnrücken reptiliengleich niederkauernde Architektur, fast schon wieder zu einem Stück Natur geworden . . . Wie in einer postindustriellen Märchenwelt: Rosen, aber auch wild wucherndes Pflanzenwerk auf rissigen, abblätternden Mauern. Die Blume, die Vase, das Haus, die Fabrik – eine in Bildern fündig gewordene Suche nach der Anwesenheit des Menschen in den bloßen Dingen.

Martin Paulus, 2014

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»DIE AQUARIEN DER FERNE UND VERGANGENHEIT«

Der Titel der Ausstellung – »Die Aquarien der Ferne und Vergangenheit« – ist Walter Benjamins Buch »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« entnommen. Mit dieser sehr bildhaften Formulierung umschrieb er in seinem »Kaiserpanorama« genannten Text ein Phänomen, das in unseren Tagen, in seiner suggestiven Wirkung, vergleichbar mit dem Internet wäre.
Die Panoramen und Dioramen, meist auf Jahrmärkten, Korsos und Promenaden anzutreffen, waren dreidimensionale Bildwerke mit spektakulären Darstellungen aus Geographie und Geschichte, in die der Besucher und Betrachter gleichsam körperlich »eintauchen« konnte. Sie waren eine kuriose Erscheinung der »ästhetischen Versenkung« des 18. und 19. Jahrhunderts auf dem Weg von der Historienmalerei der Salons zu den ersten großen Hollywood-Epen der Filmpaläste.

Ich begreife meine Arbeit in dieser – tatsächlich noch viel längeren – Tradition des Erzählens und Darstellens von »Gewesenem«, das, wie ich glaube, allerdings nie wirklich restlos vergangen ist und deshalb noch immer gegenwärtig bleibt . . .
Dabei bediene ich mich verschiedenster Fundstücke: anonymer, »herrenloser« und alter Fotografien, aber auch anderer, ganz realer Dinge, die das Meer vieler vergangener Jahre fortwährend an die Küste des Heute spült.
Zeichnung, Malerei und Objekt stellen unterschiedliche Vehikel der Annäherung an diese Ferne und Vergangenheit dar. Die Zeichnungen sind oft nur ein Schimmer, wie ein Atemhauch . . . die Objekte sind dagegen viel dinghafter, Relikte, von der Zeit durchtränkt, die in der Gegenwart neu aneinander geraten und in dieser Form in der Wirklichkeit verankert werden. Die Gemälde befinden sich, mehr oder weniger stark zur einen oder anderen Darstellungsweise tendierend, zwischen diesen beiden Polen: Häufig trifft hier das Skizzenhafte und Fragmentarische, eine eigentlich eher zeichnerische Eigenschaft auf die in höchstem Maße konkrete Materialität der Bildträger – alten, häufig auch gemusterten Stoffen oder allen möglichen anderen Bewahrern von Spuren ihres Gebrauchs, wie Holz, Metall, Pappe, Plastik . . .
In den Objekten wird vielleicht am stärksten ein spielerisches und geradezu kindliches Moment spür- und sichtbar. (Ist nicht die Evokation der eigenen Kindheit für jeden von uns der Schlüssel, eine Art »Königsweg« zurück in vergangenes Leben . . .?)
Mit meinen Arbeiten begebe ich mich auch auf die Suche nach jener spielerischen Ernsthaftigkeit aus Kindertagen. Denn nur im Spiel kann so etwas Unmögliches wie die Überwindung von Räumen und Zeiten glücken.

Aquarien sind künstlich geschaffene Welten im Kleinen, durch die Fläche einer Glasscheibe zu zweidimensionalen Bildern eines schwerelosen existentiellen Urzustands geworden, wie Projektionen des Lichts auf einer Kinoleinwand, wie all die Visionen auf den Leinwänden zahlloser Maler. »Bildorte« – in Zeitlosigkeit versunken.

Martin Paulus, 2015

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»LICHT, IN DIE DÜSTERNIS GEWORFEN . . .«

Buntgemusterte Stoffe aus den 50er und 60er Jahren, Straßenkarten, Holzkästchen, Porzellantassen, Küchenutensilien und noch allerlei andere reichlich bejahrte Dinge wurden mir wiederholt in kleineren und größeren Papiertüten oder Plastiksäcken heimlich vor die Haustüre gestellt. Wie vor einen Altar, dem sang- und klanglos Opfer dargebracht werden.
Eine Freundin hatte mich von Zeit zu Zeit, im Zuge der elterlichen Haushaltsauflösung, gezielt mit kuriosen Materialien, den unterschiedlichsten Rohstoffen für zukünftige Bilder und mögliche Objekte, versorgt. Unter diesen Gaben meiner so praktisch verfahrenden Muse befanden sich auch aus fernen Zeiten gefallene Prospekte, Broschüren und Bücher. Ein in verblichenes gelbes Leinen gebundener Bildband (siehe Umschlagmotiv dieses Buches!), auf dem lediglich der Name eines allseits bekannten Künstlers in großen altertümlichen und mit Schnörkeln versehenen Lettern prangte, erregte sofort meine Aufmerksamkeit:
» P i e t e r B r u e g e l « . . .
Beim Aufblättern fand sich auf dem Vorsatzpapier das Exlibris eines verblassten violetten Stempelabdrucks seines mutmaßlich allerersten Besitzers: »Georg Andreas Speck, Kunstmaler, Magdeburg, Lennéstraße 10, Telefon 41500.«
Wann und auf welchen Wegen war wohl dieses Buch in den Bücherschrank der Eltern meiner mir so wohlwollenden Gönnerin gelangt? Das Impressum am Buchende offenbarte, dass das Druckwerk nicht nur aus einer längst vergangenen Epoche stammte, sondern auch aus jenem nicht mehr real existierenden Land, das man ehemals in unserem Teil Deutschlands lakonisch die »Zone« nannte: »Evangelische Verlagsanstalt GmbH. Berlin 1952. Alle Rechte vorbehalten. Veröffentlicht unter der Lizenz Nr. 420 des Amtes für Literatur und Verlagswesen der Deutschen Demokratischen Republik. Nr. 260-230-50. Satz und Druck: Buchdruckerei Oswald Schmidt GmbH. Leipzig III-18-65. hg.«
Dieses spröde, gemessen an heutigen Maßstäben, bescheiden ausgestattete Kunstbuch, seine irgendwie demütig und ärmlich erscheinende sozialistische Patina, die etwas groben, fast ausschließlich in Schwarz-Weiß wiedergegebenen Abbildungen auf billigem, dünnem, zeitungsartigem, nunmehr stark vergilbtem Papier ging mir wochenlang nicht mehr aus dem Kopf . . .
All das: ein Buch, ein Land und seine Menschen waren Makulatur geworden.
Dann endlich war es so weit. Ich schnappte mir einen einzigen Pinsel und die dunkle Holzbeize. Drei Tage lang durchblätterte ich den betagten Bruegel-Band, reagierte wie in einem Wechselbad von Furor und Trance auf dessen zahllose Antlitze, diese Bilder seiner Bilder aus einem früheren Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit. Beinahe wie in einer psychoanalytischen Konfrontation, dem so überaus raschen wie spontanen Schlagaustausch von Frage und Antwort, zeichnete ich direkt, Blatt für Blatt, auf die Seiten des Buches . . . Völlig assoziativ und ohne lange zu zögern beantwortete jetzt der Pinsel in meiner Hand die vielen verwirrenden Fragen, die mir mein malender Vorgänger unablässig stellte.
Pieter Bruegel d. Ä., zwischen 1525 und 1530 vermutlich in Breda geboren, am 9. September 1569 in Brüssel gestorben, war mir unversehens in diesen stundenlangen Sitzungen, fast 450 Jahre nach seinem Tod, auf wundersame Weise zu meinem Analytiker geworden.
Sein Werk, das in Form dieses merkwürdigen Buch gewordenen Surrogats auf mich gekommen war, das eigentlich einer protestantisch-sozialistischen Volksbildung (besser: Volkserziehung) kurz nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs dienen sollte, wurde mir zu einem Spiegel mit unzähligen Facetten, in dem ich mich selbst – zeichnend – wiederfand. Seine Visionen und Obsessionen förderten die meinen aus einem tiefen, letztlich unergründbaren Brunnenschacht zu Tage . . . und überlagerten sich, mehr und mehr, in diesem so gewonnenen Palimpsest aus Druckerschwärze und Beize. Und nach 65 Jahren (der Dauer eines Menschenlebens) verwandelte sich das eine Buch in das andere.

»Der düstere Tag«, so lautet der Titel des entstandenen Zyklus von Zeichnungen, benannt nach jenem gleichnamigen, im Jahr 1565 von Pieter Bruegel fertiggestellten Gemälde, das sich heute im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet. Es ist sein düsterstes Bild. »Der düstere Tag« ist, so könnte man glauben, in weite Ferne gerückt, liegt in tiefster Vergangenheit, wurde er doch vor 452 Jahren gemalt. Seine zur Ewigkeit in Öl auf Holz geronnene Düsternis wird aber als unabdingbare Voraussetzung menschlicher Existenz weiterbestehen. Zeichnet sich denn an unserem Horizont ein letzter düsterer Tag ab?

Martin Paulus, 2016

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»DIE DREI AUS DER FERNE ODER EIN GEFÄß DER ANNÄHERUNG«

Andrej Tarkowskijs bildgewaltiges Filmepos über das Leben und Wirken des Maler-Mönchs Andrej Rubljow (vermutlich 1360 bis 1430) wechselt, am Ende seiner Handlung angelangt, unvermittelt von mehrstündigem Schwarz-Weiß in eine Welt aus Farbe . . . Das Auge (der Kamera) tastet jetzt langsam über bunt leuchtende Gefilde, dringt vor in die in goldenes Licht getauchte Atmosphäre eines Gemäldes, streicht behutsam in Großaufnahme über Kleiderfalten, Hände, Gesichter, Details . . . auf der Suche nach möglichst großer Nähe zu einem jenseitigen Dasein, zu jener aus der bloßen Materialität von Pigmenten entstandenen Epiphanie: der Darstellung dreier sich wie Drillinge ähnelnder androgyner und engelsgleicher Wesen.
Wir sehen Rubljows »Dreifaltigkeitsikone«, Anfang des 15. Jahrhunderts in Tempera auf Holz ausgeführt, das bedeutendste Werk der Kunst Russlands. Heute befindet sich das Bild in der Tretjakow-Galerie in Moskau. Viele der Besucher fallen dort – in einem Moment der Überwältigung und Demut – ehrfürchtig vor der fast mannsgroßen Ikone (142 x 114 cm) auf ihre Knie nieder – eine Reaktion, unvorstellbar in einem Kunstmuseum des Westens. Doch die im Russischen »Troiza« genannte bildliche Verkörperung (!) der Dreifaltigkeit ist ein (nationales) Heiligtum.
Rubljow malte das Andachtsbild in düsteren Zeiten, während eines der dunkelsten Kapitel der (an solchen nicht armen) russischen Geschichte. Es ist ein glühendes Fanal der Religion, ein entschiedener Widerspruch gegen die Finsternis und Barbarei seiner Epoche. In einem komplex-verschlüsselten Bildprogramm (hier ist nicht der Ort theologischer Exegese) stellt das Bild drei Aspekte Gottes dar.
Vor allem ist es aber ein über alle Zeiten hinweg sichtbar gewordener Appell an das Göttliche im Menschen. Wie jedes wahre Kunstwerk, aus der Notwendigkeit geboren, ein Hoffnungsträger und Abbild menschlicher Wünsche, wird es zum Vermittler zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

1995 entstand zusammen mit dem Bildhauer Willi Weiner »Äsops Rätsel«, ein Zyklus bestehend aus Plastiken und Gemälden, angeregt von äsopischen Fabeln. (Wir hatten uns gelegentlich schon vor diesem ersten großen Projekt zum gemeinsamen Arbeiten getroffen. Unvergesslich: ein bitterkalter Wintertag auf dem damals von Willi gemieteten und aus Geldmangel ungeheizten Bauernhof, wo wir bei weit geöffneter und somit Wärme spendender Kühlschranktür uns anschickten, mit klammen Fingern zeichnerisch und malerisch etwas zu Wege zu bringen.)
15 Jahre später war es dann der holländische Barockmaler Frans Hals, der im Mittelpunkt unseres zweiten Projekts mit dem mehrdeutigen Titel »Hals« stand.
2019 wird mit »Troiza« die bisher dritte Kollaboration in Publikation und Ausstellung vorgestellt.

Der Zyklus widmet sich erstmals einem einzelnen Werk der Kunstgeschichte. Rubljows Schöpfung ist kein unbelebter Gegenstand. Vielmehr ist die »Dreifaltigkeitsikone« durch den wundersamen Prozess der malerischen Belebung einer Tafel aus Holz mit geheimnisvoller Wesenhaftigkeit beseelt worden. Das ist der Grund, weshalb zwischen Betrachter und Bildwerk ein –innerer und inniglicher – Dialog möglich ist. (Die archaische Ehrfurcht vor dem magischen Idol, das Beten vor der Ikone, die Ergriffenheit vor einem Gemälde Rothkos . . .)
Ein Zeugnis seiner Zeit, ein ungewöhnlicher »Datenträger«, der mit Augen des 21. Jahrhunderts gelesen werden möchte. Mit welchen Antennen, mit welchen Instrumenten sind die Empfindungsqualitäten dieses so außerordentlichen Kunstwerks zu erfassen? Von welcher rationalen und sinnlichen Beschaffenheit ist es?
Worin genau besteht dessen Existenz und Essenz?
Dieses Zwiegespräch mit der »Troiza« führt zu einer Reihe von Antworten und Erwiderungen (Einverleibungen, Aneignungen, Umwandlungen . . .) in bildlicher oder bildhauerischer Form. Die Ikone eröffnet ein Reservoir, sie wird zum Auslöser ganz unterschiedlicher Kommentare und Interpretationen, zu einer fast nicht versiegen wollenden Quelle der Variation.
Die daraus hervorgegangenen Arbeiten wollen aber auch im Besonderen die formale Schönheit und offensichtliche Modernität dieser »Ikone der Ikonen« betonen: Dieses aus dem tiefsten russischen Mittelalter stammende Bildwerk (der Osten wurde seit jeher wegen seiner vermeintlichen Rückständigkeit, dem Ausbleiben einer Renaissance, vom Westen herabgewürdigt!) verweist in prophetischer – ja geradezu protoavantgardistischer Weise! – auf eine noch ferne Zukunft, auf viele der erst viel später gefeierten Errungenschaften der Kunst der Moderne. So finden sich bereits – in meisterlich gebündelter Form – lange vor dem 20. Jahrhundert in Rubljows Darstellung dreier Engelswesen: der Lyrismus der Flächen eines Matisse, Modiglianis Eros der Linie, Morandis Existenzialismus der Dinge, die zauberische Verwandlungskraft Picassos oder der geometrisch-spirituelle Mystizismus eines Malewitsch oder Mondrian . . . (Die Liste der Entdeckungen ließe sich noch fortsetzen.)

Die Arbeit an »Troiza« ist ein Akt analytisch-empathischer Anverwandlung. Ein Vorhaben, nicht nur als Hommage an einen Künstler und sein Werk zu verstehen, es ist auch ein ost-westlicher Brückenschlag: Die drei engelsgleichen Fremden des Andrej Rubljow (Glaube? / Liebe? / Hoffnung?) überwinden jenen nicht sichtbaren, doch noch immer gegenwärtigen Vorhang aus Eisen und Rost, Dogma und Ideologie.

Martin Paulus, 2019

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Martin Paulus